19.11.2019: Die Hamburger „Elphi“ ist nicht nur direkt in die Elbe gebaut und damit vom Meeresspiegel und Unwettern unmittelbar betroffen – in ihr wurde der Klimawandel nun auch deutlich hörbar! Ein ergreifendes Konzert zeigt mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, die durch aktuelle Klimadaten modifiziert zu „For seasons“ wurden, wie viel sich bereits dramatisch verändert hat – und dass wir darauf hören müssen!
Ein musikalischer Appell für Hamburger und die ganze Welt: die Dramaturgie für dieses von Musikern des NDR Elbphilharmonie Orchesters ehrenamtlich initiierten „Protest-Konzertes“, so wie es im Programmheft bezeichnet wird, hätte kaum größer sein können. Vivaldis Geburtsstadt Venedig war auch an diesem 16. November erneut von extremen Hochwassern bedroht, welches für einen der maßgeblichsten Arrangeure der Bearbeitung, dem Solo-Posaunisten Simone Candotto, die Dringlichkeit weiter steigerte – denn er kommt unmittelbar aus der Nähe Venedigs.
Über den Dächern der Speicherstadt und dem weiten Geäst der Elbe im „Venedig des Nordens“ gehen in der glasklaren Akustik die Töne umso stärker unter die Haut, die dringende Botschaft ist geradezu greifbar. Starke Emotionen der Musiker übertragen sich direkt auf die Zuhörer.
Der Beginn noch mit dem äußerst bekannten und beschwingten Melodien von Vivaldis Frühling, in dem der Solist Roland Greutter vom ersten Ton an brilliert, lässt nur für kurze Momente ungetrübte Freude und Harmonie aufkommen. Schon bald vermisst der Zuhörer geradezu schmerzlich etwas und wird aufgerüttelt durch – eine plötzliche Stille. Eine Leere. Bratschen scheinen da fast flehentlich rein zu „rufen“ – doch ohne Antworten, es bleibt still in den Begleitstimmen. Die Solo-Violine hält kraftvoll „ihren Kurs“, auch wenn sie über riesigen Lücken zu schweben scheint.
77% der Insekten sind seit Vivaldis Zeiten ausgestorben. Endsprechend „überlebt“ nur noch jede vierte Note der ersten und zweiten Geigen. Um die Bratschen herum entsteht ein leerer Raum – den sie nur etwas auffüllen können.
Die Leere wurde höchst eindrucksvoll arrangiert. Sie ergreift unmittelbar und lässt direkt begreifen, was sich hinter der viel abstrakteren Zahl verbirgt.
Keineswegs allein die Größen von Zahlen oder Veränderungen sind es für mich im weiteren Verlauf, welche die dramatische Wirkung bringen. Denn auch wenn die Vogelpopulation „nur“ um 15% von Vivaldis Zeiten bis heute zurückgegangen ist: auch schon wenn einzelne Triller oder Melodien nur wenige „Aussetzer“ haben fehlt dem Ohr enorm viel, die Balance stimmt nicht mehr!
Geradezu bedrohliche Bläser mit ganz neuen Stimmen gegenüber Vivaldis Original lassen den Anstieg des CO2 seit 1725 hören und vieles der so wunderschönen, feinen Streicher-Stimmen geht darin unter. Doch für mich am eindrucksvollsten war, wie sich einzelne Stimmen verschoben, verzerrt wurden und (beispielsweise im so stark aufgeheizten Sommer) deutlich verlangsamt haben. Dadurch brach das Gesamtgefüge auseinander – und meinem Eindruck nach ergriff dieses fast schon körperlich spürbare Chaos, dem die Harmonie aufeinander aufbauender, sich antwortender Stimmen fehlte, viele der Zuhörer, es ließ sich keineswegs „bequem“ zuhören!
Die Konzentration und Anspannung auch im Publikum entlud sich nach dem letzten Ton und einer intensiven Pause, in der auch das kurz zuvor hinter dem Orchester durch Musiker getragene Plakat wirken konnte, in einem lautstarken Applaus. Fast geschlossen erhob sich das Publikum zu standing ovations.
Eindrucksvoll wurde in dem knapp 40minütigen Konzert umgesetzt, was im „Hintergrund-Text“ zumindest der Presse angekündigt wurde:
„Das neue Abbild der „Vier Jahreszeiten“ ist dabei nicht bequem, fällt stetig mehr aus der ursprünglichen musikalischen Proportion und Balance und liefert auch kein Happy End. Vielmehr macht das neue Werk die Dringlichkeit der Lage erlebbar und lässt den Hörer wortlos fühlen, was die Fakten zeigen: Das Klima und unsere Jahreszeiten sind aus dem Gleichgewicht geraten.“
Die aktuellen wissenschaftlichen Daten, die die starke Veränderung der Welt gegenüber Vivaldis Zeiten eindeutig belegen, wurden per Algorithmus automatisiert auf die Partitur des großen italienischen Meisters angewandt. Diese Arbeit setzte Simone Candotto zusammen mit Markenfilm SPACE und dem Berliner Kreativstudio KLING KLANG KLONG um.
Chefdirigent Alan Gilbert war hochzufrieden nach dem Konzert und hofft, dass es viele Wiederholungen geben wird. Dafür will sich auch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen einsetzen, die mit „im Boot sind“. In der Ansprache unmittelbar vor den ersten Tönen hatte Gilbert betont, dass die Musiker gegen die tiefgreifende Klimakrise alles ihnen mögliche tun und mit der „emotionalen Kraft der Musik die Fakten der Wissenschaftler unterstreichen wollen.“
Mit dieser Kraft zeigten sie eindrucksvoll, was ACT NOW bedeutet. Und besonders in der Hamburger Elphi und mit dem starken Bezug zu Venedig bekommt der Nachsatz noch weitere Dramatik: „OR SWIM LATER!“
Der NDR zeigt einen kompletten Mitschnitt des Konzertes hier.
Allein schon, dass Orchestermusiker ehrenamtlich einen solchen Effort zustande bringen, ist Anlass zur Begeisterung. Die obige Beschreibung begeistert mich allerdings auch. Sie rückt einen Schmerz in den Mittelpunkt, der viele von uns bedrückt, und weist gleichzeitig auf die hohe und herzerwärmende Qualität hin, mit der durch Musik etwas Neues entsteht. Das sonst deprimierende Thema wird auf derart geistvolle Art behandelt, dass Freude aufkommt. Das stärkt mein Vertrauen in uns Menschen. Klar, vorerst sind wir für den Artenschwund und den Klimawandel seit Vivaldi verantwortlich. Wir können aber auf die Misere reagieren und durch Baumpflanzaktionen und Artenschutz und durch Verzichtstrategien eine Wende zu neuer Artenvielfalt und Lebendigkeit vorbereiten. – Und, ganz abgesehen von der Protestgeste: Dieses Konzert in der Elbphilharmonie erweitert gleich schon mal den sonst so aalglatten Kulturbetrieb des klassischen Konzertgeschehens um eine entscheidende Sinndimension, auch das ist erfreulich.
Lieber Albert Vinzens,
dies so ausführliche Kommentar freut mich sehr! Für mich zeigt eine solch starke Empathie, dass hier sehr tiefsinnig und genau ‚zugehört‘ wurde – und damit das starke Engagement der Musiker weitere Früchte trägt. Dies so differenziert zu lesen ist für mich eine große Freude. Danke dafür!